{ Rede zur Preisverleihung von Frank-Walter Steinmeier }

Frank-Walter Steinmeier bei seiner Rede anlässlich der Preisverleihung 2014

Lieber Olaf Scholz,

liebe Frau Lenz,

liebe Frau Oz,

sehr verehrten Damen und Herren, aber besonders: lieber Amos Oz,

heute ehren wir Sie, Amos Oz. Und wir ehren Sie im Namen und im Geiste von Siegfried Lenz. Sie beide haben sich als Schriftsteller über Jahrzehnte begleitet. Doch nur einer von Ihnen ist heute hier.

An mein letztes Zusammentreffen mit Siegfried Lenz erinnere ich mich sehr genau. Wir sahen uns bei Helmut Schmidts Geburtstagsfeier im Januar noch hier im Hamburger Rathaus. Unsere Begegnung damals war geprägt von gemeinsamer Vorfreude auf diesen heutigen Tag, auf die Stiftung dieses Preises und den ersten Preisträger, alles das hat ihm so viel bedeutet.

Am 7. Oktober ist Siegfried Lenz von uns gegangen.

Erst vor einigen Tagen erhielt ich von Ihnen, liebe Ulla Lenz, einen sehr persönlichen Brief und darunter ein Zitat Ihres Mannes, das mich sehr berührt hat: „Ritz Deinen Namen in den Sand, dort, wo er feucht ist und die Welle noch hinlangt; ritz ihn ein und warte und sieh zu, wie er erlischt. Danach kannst du leicht fortgehen.“

Siegfried Lenz ist fortgegangen. Aber er hat uns nicht verlassen. Er bleibt bei uns. Bei jedem einzelnen hier im Saal, auch mir selbst, in ganz eigenen Prägungen, Sichtweisen, Ratschlägen – in literarischen und in persönlichen Erinnerungen. Und ganz gewiss bleibt Siegfried Lenz bei Ihnen, lieber Amos Oz. Ihre literarische und persönliche Freundschaft reicht tief. Ich kann in dieser heutigen Rede ihren Reichtum in allen ihren Facetten kaum würdigen.

Aber ich will über eines im Besonderen sprechen: In Ihrer beider literarischen und persönlichen Freundschaft liegt begründet, was uns allen im kommenden Jahr auf vielen Ebenen begegnen wird: das Verhältnis von Israelis und Deutschen im 50. Jahr unserer diplomatischen Beziehungen. Die Vorbereitungen dazu laufen in beiden Ländern. Und für mich ist dieser heutige Tag ein würdiger Auftakt – eine literarische Vorahnung dessen, was wir politisch im nächsten Jahr intensiv begehen und hoffentlich auch ein bißchen feiern werden.

Von Siegfried Lenz wissen wir: Ohne Israel wäre dieses Land Deutschland nicht dasselbe! Nicht, was unser Verhältnis zur Vergangenheit angeht und nicht unsere Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung.

Deswegen sage ich: Wir ehren heute Amos Oz im Geiste von Siegfried Lenz. 1980, bei einem Treffen mit israelischen Schriftstellern fragte Siegfried Lenz einmal seine israelischen Kollegen, was sie eigentlich von deutscher Gegenwartsliteratur erwarten würden. Die Antwort war – für uns überraschend -: keine ‚Aufarbeitung‘, keine ‚Bewältigung‘, sondern dies: nicht die Leiden zu übergehen, die das jüdische Volk durch uns erfahren hat.

Genau dafür stehen die Romane von Siegfried Lenz. Und so hat er zu dem beigetragen, was das wichtigste überhaupt ist in Beziehungen zwischen Menschen und Völkern: Vertrauen zu schaffen. Ein Vertrauen, das sich auf Verstehen gründet. Verständnis für einander kann nur wachsen, wo die Anstrengung des gegenseitigen Verstehens unternommen wird. Verständnis und Verständigung können nicht erwartet oder eingeklagt werden. Sondern sie müssen wachsen durch geduldiges Zuhören, neugieriges Lesen und – Amos Oz würde sagen – verantwortliches Sprechen. Eben durch Kultur und vielleicht besonders durch Literatur. Denn mehr als aus allen Geschichtsbüchern erfahren wir den tieferen Sinn, die Träume und Traumata von Menschen und Völkern aus ihren Geschichten, aus Romanen und Erzählungen.

Siegfried Lenz hat beherzigt, was Amos Oz ihm einmal im Kibbutz Chulda nahegelegt hat: „Wenn du Israel verstehen willst, wenn du die Seele des Landes wirklich erfahren willst, dann geh nachts durch die Straßen. In der sommerlichen Hitze der Nacht schlafen viele Leute auf den Balkonen. Wer still geht, hört sie in ihren Angstträumen seufzen, stöhnen und wimmern, sie träumen in mehreren Sprachen, überwältigt von Vergangenheiten, die nicht aufhören wollen.“

Meine Damen und Herren,

Siegfried Lenz hat diese Aufforderung beherzigt und genau deswegen ist er zu einem Brückenbauer zwischen unseren Literaturen und Völkern geworden. Warum war das wichtig? Weil in Deutschland erst die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchenhandels 1992 an Amos Oz die Aufmerksamkeit auf die israelische Literatur lenkte. Weil nur schleppend begann, was sich heute – damals noch unvorstellbarer – als Erfolg darstellt. Denn es werden mittlerweile mehr hebräische Titel ins Deutsche übersetzt als in jede andere Sprache.

Am Anfang dieser doch so erstaunlichen Entwicklung stand Siegfried Lenz Pate. Mit einem für uns Heutige kaum mehr üblichen Pathos und einem tiefen Verständnis für den Menschen Amos Oz hat er das Werk seines Dichterfreundes gewürdigt.

Die Ausgangslage beider konnte nicht unterschiedlicher sein. Am Beginn der größten Katastrophe des jüdischen Volkes wird Amos Oz am 4. Mai 1939 im damals scheinbar noch sicheren Jerusalem geboren. Der 1926 geborene Siegfried Lenz hingegen wird im Jungvolk und in der Hitlerjugend auf das NS-Regime eingeschworen. Als er mit siebzehn zur Kriegsmarine eingezogen wird, gelingt es ihm, im besetzten Dänemark zu desertieren.

Amos Oz‘ Familie entkommt dem Terror der Nazis. Schon in den frühen 30er Jahren hatte sie Osteuropa gegen Jerusalem eingetauscht. Joseph Klausner, der Großonkel von Amos Oz, studierte in Heidelberg, hatte eine Professur für Geschichte des Orients in Odessa, emigrierte nach der Oktoberrevolution dann nach Jerusalem. Seine Bücher „Jesus von Nazareth“ und „Von Jesus zu Paulus“ gehören zu den Büchern, die ewig sind. Der Großvater von Amos Oz hatte schon in Odessa Jerusalem in Gedichten besungen, sein Vater, ein bekannter Literaturwissenschaftler „konnte 16 Sprachen lesen und elf davon sprechen.“ Seine „Mutter sprach ebenfalls fünf oder sechs Sprachen“. Und deshalb erinnert sich der Sohn später: „Meine Eltern und alle ihre Familienmitglieder waren europäische Menschen.“ Familien wie die Klausners haben mit ihrem europäischen Erbe viel dazu beigetragen, dass das heutige Israel auf seinem schmalen Territorium eine intellektuell und kulturell ungeheuer reiche Gesellschaft hervorgebracht hat, die ihre Wurzeln mit Europa teilt.

In Israel ist viel Europa. Europa aber fehlt, was seine verfolgten, gefolterten und ermordeten jüdischen Mitmenschen zum Reichtum europäischer Gesellschaften beigetragen haben.

Der junge Amos Oz verließ bald nach der Staatsgründung im Mai 1948 in Auflehnung gegen sein bildungsbeflissenes Elternhaus Jerusalem, um im Kibbutz Chulda mit eigenen Händen an die Arbeit zu gehen und beim Aufbau des Landes mitzuhelfen. Die Kibbutzbewegung wollte fernab vom Tod bringenden Europa den neuen Menschen nach sozialistischen Vorstellungen schaffen.

In diesen Mikrokosmos, in dem Amos Oz 30 Jahre zugebracht hat, kehrt er immer wieder in seinen Erzählungen zurück, zuletzt in seinem im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienenen Erzählband „Unter Freunden“. Das alte Israel wird sichtbar, wir begegnen dort der Gründergeneration, die sich ganz viel erträumt hat, aber eben von der Wirklichkeit hart geprüft wurde. Wir erfahren von dem spartanischen Leben, das alle in Kauf genommen hatten, um selbstbestimmt leben zu können.

Amos Oz spricht darüber in seinem Opus magnum, „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“. Nirgendwo lesen wir schöner, eindringlicher, aber auch zärtlicher von den Pionieren und ihrer Utopie, sich endlich die eigene Heimat zu schaffen. Amos Oz erzählt aber auch von deren Nachkommen, die die Gründungsmythen ihrer Väter hinter sich lassen und das schaffen, was heute die moderne israelische Identität ausmacht. Mit der Rückschau auf die eigene Familiengeschichte ist ihm zugleich so etwas wie eine nationale Chronik Israels gelungen.

Die Konfrontation des alten mit dem heutigen Israel durchzieht die gesamte Literatur von Amos Oz. Es geht nicht nur um die Frage nach dem richtigen Gesellschaftsmodell. Vor allem bleibt ein Thema auf der Agenda: das Zusammenleben in dieser Region der Welt mit der arabischen Welt und das von der NS-Vergangenheit gespeiste Schreckbild, immer und nur von Feinden umzingelt zu sein.

In seiner Dankesrede für die Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Paulskirche 1992 erläutert uns Amos Oz, wie allein das Dilemma überwunden werden kann: „Der Grund, warum ich diese Geister

heraufbeschwöre, liegt darin, dass meine schriftstellerische Tätigkeit wie auch mein Engagement für den Frieden von dieser Vergangenheit geprägt sind. Dennoch bin ich der Meinung, dass diese Vergangenheit keine Herrschaft über uns erlangen darf. Jegliche Form einer Tyrannei der Vergangenheit ist mir zuwider.“

Siegfried Lenz hat es aufgenommen und anders formuliert: „Das Gedächtnis hat eine verpflichtende Eigenschaft, es legt etwas nahe, es beauftragt, es verpflichtet für die Gegenwart zu handeln“.

Ich glaube: Israelis wie Deutsche, im Angesicht ihrer jeweiligen Geschichte, sind aufgerufen durch den inhaltlich ähnlichen Appell dieser beiden Schriftsteller. Diese Verpflichtung gilt natürlich insbesondere dem Friedensbemühen im Nahen Osten. Der Nahe Osten muss endlich, wie es Amos Oz formuliert hat, aus der Spirale einer „Politik auf Leben und Tod“ herausfinden!

Die jüngste Gaza-Krise – die dritte in fünf Jahren! – hat uns bitterlich daran erinnert, dass Israels Sicherheit immer noch bedroht ist. Und die Krise hat uns daran erinnert, dass der Frieden nur in einem echten, einem wirkungsvollen politischen Prozess erreicht werden kann!

Für Amos Oz ist der Kampf gegen Gewalt und Fanatismus jeder Couleur – auch im eigenen Land – zum Lebensthema geworden. Nachzulesen ist in seinem eindrucksvollen Roman „Black Box“ (1987), wie jeglicher Fanatismus, auch der Fanatismus in einem selbst, besiegt werden kann.

Für Amos Oz ist die Sehnsucht nach Frieden ein tägliches Ringen. Er lehnt das Entweder-Oder, Sieg oder Untergang, ab und dringt auf den Dialog zwischen Feinden. Er fordert alle auf, die sich im Nahostkonflikt engagieren, und zwar weder für Israel, noch für Palästina, sondern für den Frieden einzutreten.

Bisher haben ihn die Beteiligten – und wir gehören dazu – in den letzten Jahren und Jahrzehnten verfehlt. An Bemühungen hat es nicht gefehlt. Oslo, Genf, Camp David, Annapolis – diese Städtenamen stehen stellvertretend für eine Geschichte des Scheiterns. Alle Fragen, alle Antworten liegen auf dem Tisch – seit Jahren. Aber an Bereitschaft und Mut auf der Suche nach Frieden im Nahen Osten, die für eine Verständigung erforderlich wären, hat es jedes Mal gefehlt. Die Geschichte der Suche nach Frieden im Nahen Osten ist eine Geschichte der verpassten Chancen. Gerade jetzt – wenn die Spirale der Gewalt sich wieder in Gang setzt – dürfen wir nicht aufgeben. Ich weiß nicht, ob es die letzte Chance für eine Zwei-Staaten- Lösung ist, die John Kerry vorangetrieben wird. Ich weiß nur: Die Menschen wollen einen Alltag ohne Attentate, Raketenangriffe, Bedrohungen und ständige Angst. Deshalb dürfen wir diese Chance jetzt nicht verpassen.

Zwei Dinge müssen dafür geschehen: Israels Sicherheit muss gewährleistet sein. Gaza darf nicht eine Startrampe für Raketen auf Israel bleiben! Aber gleichzeitig müssen die Lebensbedingungen der Menschen in Palästina und insbesondere im Gazastreifen verbessert werden. Ich bleibe, genau wie Amos Oz, davon überzeugt, dass beide Ziele nur in einer Zwei-Staaten-Lösung dauerhaft erreicht werden können.

Aber sie kommt nicht von selbst. Wir müssen weiter dafür arbeiten und werben! Morgen werde ich in Ramallah sein, übermorgen in Jerusalem. Wir brauchen Beharrlichkeit, Vernunft, Überzeugungskraft und nie nachlassenden Ehrgeiz zu erreichen, was nicht erreicht ist.

Amos Oz, der Schriftsteller, setzt auf die Macht der Worte und immer noch auf Vernunft! Er hat mit Worten Menschen für den Frieden in Bewegung gesetzt. Unermüdlich beschwört er den Frieden und den Dialog. Seit Jahrzehnten.

Mit Geschichten und mit erzählter Erinnerung und mit der Hoffnung, dass Menschen aus Erinnerung Lehren ziehen. Diese Funktion der Literatur hat Siegfried Lenz einmal „das kollektive Gedächtnis der Menschen“, „die umfassendste Sammlung von Erlebtem und Gedachtem“ genannt.

„Weltvernunft“ war es in den Worten von Willy Brandt.

Ihre in alle Sprachen der Welt übersetzten Geschichten, lieber Amos Oz, sind ein Kapitel dieser ‚Weltvernunft‘, und eins der wichtigsten dazu. Ich hoffe, Sie werden dieses Kapitel weiter befüllen und damit für den Frieden wirken. Und wenn Sie das tun, dann tun Sie es gewiss im Geiste Ihres Freundes, unseres Freundes, des unvergessenen Siegfried Lenz!

Herzlichen Glückwunsch zum Siegfried Lenz-Preis.